Blick zurück: Die Lader Erdbeerkinder
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Es ist nur ein einziges Foto, aber es erzählt eine einzigartige Geschichte: Rund um 1895 war Ignaz Falch, ein Fotograf aus dem Tiroler Oberland, in der Region Serfaus-Fiss-Ladis unterwegs und hat das Leben zu dieser Zeit mit seiner Kamera festgehalten. Dabei entstand das Bild der Erdbeerkinder von Ladis – Mädchen, in ihren besten Trachtenkleidern und mit Kopftüchern, die am Hintereingang des noblen Kurhotel Ladis auf Tellern ihre selbst gesammelten Walderdbeeren anbieten. „Das ist eine Geschichte, die es so nur in Ladis gab – es ist ein Alleinstellungsmerkmal für unsere Region. Kinder, die selbständig im Wald Erdbeeren gesucht und diese dann an wohlhabende Kurgäste verkauft haben, damit sie ihre Familien unterstützen konnten“, sagt Florian Klotz. Der Alt-Bürgermeister von Ladis hat zur Geschichte rund um die Erdbeerkinder unter anderem im Zuge des Buchprojektes „Sport- & Kurort Ladis“ viel recherchiert. Das Buch wurde anlässlich des 50-jährigen Gedenkens an den verheerenden Brand im Kurhotel Obladis veröffentlicht: „Man hat diese Geschichte früher schon gehört, wenn die Großeltern oder andere Verwandte davon erzählt haben. In jungen Jahren hat man aber das Bewusstsein dafür noch nicht, in welcher Zeit sich das Ganze zugetragen hat, was es bedeutet hat und wie die Menschen hier gelebt haben. Erst als Erwachsener habe ich mir dann gedacht, dass es eigentlich eine prägende Geschichte für die Region ist“, sagt der Lader.
Die Zeit der Erdbeerkinder
Die ersten Aufzeichnungen und Erzählungen zu den Erdbeerkindern gibt es etwa ab 1885. Damals war Ladis bereits ein Tourismusort, einer der wenigen und ältesten in ganz Tirol: Das lag vor allem an der Sauerbrunnquelle, die bereits 1212 von einem Ziegenhirten entdeckt worden war. Im Laufe der Epochen entwickelte sich dadurch ein Sommer- und Kurtourismus, der wohlhabende Gäste aus aller Welt in das kleine Bergdorf zog. Übernachtet haben die Besucher im geschichtsträchtigen Kurhotel Obladis. „Da waren Gäste aus den USA oder sogar Peking dabei. Unglaublich für diese Zeit!“, sagt Florian. Im Gegensatz zu den wohlhabenden Gästen war die einheimische Bevölkerung aber weiterhin meist arm. „Das waren zum Großteil Bergbauernfamilien mit sehr vielen Kindern. Da ist es oft um das bloße Überleben gegangen. Im Sommer und Herbst musste man die Ernte einbringen und schauen, dass man mit allen Kindern über den Winter kommt“, so Florian. „Leider wissen wir auch aus der Geschichte, dass Kinder immer wieder für Arbeiten herangezogen wurden. Mithelfen war gang und gäbe“, weiß Florian. Zum Teil mussten die Kinder in den Alpenregionen als sogenannte „Schwabenkinder“ sogar weggeschickt werden, ohne dass die Eltern wussten, wo sie landeten, welche Arbeiten sie verrichten mussten und wie es ihnen erging.
Ladis hatte da bereits einen kleinen Vorteil: Durch den Tourismus gab es – anders als in ähnlichen Bergregionen – bereits Zuverdienstmöglichkeiten und man musste Kinder nicht unbedingt als Arbeitskräfte in die Ferne schicken.
Eine dieser Möglichkeiten war eben das Sammeln von Walderdbeeren – und wer schon einmal im Wald die kleinen Früchte gesammelt hat, der weiß: Man braucht viel Geduld und muss lange suchen, bis man einen ganzen Teller voller Walderdbeeren anbieten kann, wie die Kinder auf dem Foto! Verkauft wurden die Walderdbeeren an die Gäste des Kurhotels. „Dabei wurden hauptsächlich die jüngeren Kinder geschickt, weil da das Mitleid am größten war“, erklärt Florian.
Das Revier der Lader Kinder
Bis etwa 1945 gab es immer wieder Erdbeerkinder in Ladis. Florian und das Team rund um das Buchprojekt konnten für Recherchen noch mit ehemaligen Erdbeerkindern sprechen - mittlerweile sind aber leider alle verstorben. Eine, die besonders viel über diese Zeit zu erzählen wusste, war Frieda Tschiderer. Sie wurde 1930 geboren und war schon als Erdbeerkind unterwegs, als sie noch nicht einmal zur Schule ging. „Sie hat auch berichtet, dass es beim Sammeln große Rivalitäten zwischen den Dörfern gab. Kinder aus Fiss durften nämlich nicht mitsammeln und wurden verjagt“, erzählt Florian. Viele der spannenden Geschichten sind auch im Buch „Sport- & Kurort Ladis“ nachzulesen.
Notburga „Burgl“ Kirschner, die Enkelin des langjährigen Kurhotel-Besitzers Dr. Hermann Schumacher, ist ebenfalls wichtige Zeitzeugin, wenn es um die Erdbeerkinder geht: „Sie erinnert sich, dass sich ein Gast sogar der Kinder angenommen und einen Lehrer engagiert hat, der den Lader Nachwuchs unterrichtete. So sind enge Verbindungen zwischen den Erdbeerkindern und den Gästen entstanden“, sagt Florian.